Ich habe einmal versprochen, ausführlicher zu erläutern, warum es in unseren Klein- und Großstädten, einzelnen Stadtteilen sowie in verschiedenen Ortschaften so viele Denkmäler und andere Erinnerungen an den Großen Vaterländischen Krieg gibt. Das sind keine vernachlässigten Stellen, die schon lange ihre ursprüngliche Bedeutung verloren haben. Ganz im Gegenteil!!
Ich will hier keine Inhalte von TikTok-Videos, Zeitungsartikeln oder Fernsehsendungen wiedergeben. Ich schreibe nur das, was ich direkt von meinen eigenen Großeltern weiß und immer in meinem Herzen trage. Unzählige ähnliche, traurige und furchteinflößende Geschichten kann Ihnen fast jeder Russe erzählen. Das sind Geschichten voller Leid, das in unseren Genen liegt, das an uns von unseren Vorfahren weitergegeben wurde, das durch unsere Adern fließt…
Es ist eigentlich ein großer Zufall und ein Wunder, dass es meine Mama, meine Tante und uns, ihre Kinder und Enkelkinder, auf dieser Welt überhaupt gibt. Meine Oma Schura (Шýра, Kurz- und Koseform für Aleksandra), damals noch ein kleines Kind, zusammen mit ihrer Familie und anderen Einwohnern ihres Dorfes bei Nowgorod (Нóвгород) im Nordwesten unseres Landes, wurden nämlich schon in eine Scheune eingepfercht, wo sie alle lebendig hätten verbrennen müssen. Sie haben sich bereits voneinander verabschiedet… Mir wird schwindelig, wenn ich versuche, mir diese Minuten vorzustellen… Im letzten Moment ist glücklicherweise die Rote Armee gekommen und sie alle gerettet.
Meine Oma Schura (Шýра) hatte bis zu ihrem Tod eine Narbe am Fußgelenk – die ewig bleibende Spur der Granatsplitter-Verletzung. Es herrschte damals so ein großer Hunger, dass ihr kleines Brüderchen einmal versuchte, die zufällig draußen gefundenen, gefrorenen Kartoffelschalen für die Familie zu sammeln. Diese wurden aus den kleinen Händchen mit dem gestiefelten Fuß ausgestoßen…
Meine zweite Oma, Rosa (Рóза), erhielt im Mai 1941 die Anerkennungsurkunde (sehen Sie das Foto), da sie ihre zweite Klasse mit den besten Leistungen abschloss. Machte das kluge Mädchen weiter so? Konnte sie dann an die Uni gehen, eine beeindruckende Karriere machen? Das wäre durchaus möglich gewesen, da Frauen in der Sowjetunion gleich nach der Revolution (1917) alle Rechte bekamen.
Nein, für die kleine Rosa war so etwas nicht möglich. Sie musste plötzlich die Schule fast aufgeben und auf ihre Kindheit verzichten. Sie musste auf einmal erwachsen werden und die Verantwortung für den Haushalt und für ihre zwei kleinen Geschwisterchen übernehmen. Die Familie wohnte weit entfernt von Moskau, in Schilka (Ши́лка), einer kleinen Stadt im Südosten Russlands. Rosas Vater, mein Urgroßvater Kapiton (Капито́н), konnte nicht an die Front gehen, da er hinkte. Seine Frau Matröna (Матрёна), meine Urgroßmutter, und er mussten aber fast rund um die Uhr arbeiten. Unser Volk, auch im Hinterland, hat alles Mögliche und Unmögliche getan, um die Front zu unterstützen und den Sieg näherzubringen…
Man hatte auch in diesem Teil des Landes extrem wenig Nahrung. Meine Großmutter Rosa (Рóза), damals noch ein Kind, musste in langen Schlangen stehen und warten, bis sie gegen Lebensmittelkarten klitzekleine Brotportionen für die Familie erhalten konnte…
Der Vater meines Vaters, Walentin (Валенти́н), der damals mit seiner Familie bei Krasnodar (Краснода́р), im Südwesten wohnte, konnte wegen des Krieges gar keinen Schulabschluss machen. Er begann noch als Kind zu arbeiten und schloss sich dann als Jugendlicher ans Militär an. Zum Glück blieb er am Leben!
Sein Vater, Semön Iwanowitsch Tschernich (Семён Ива́нович Черны́х), starb aber 1943 auf der Krim (Крым). In Sewastopol (Севастóполь) gibt es eine Gedenkstätte für gefallene Soldaten. Der Name meines Urgroßvaters ist dort auch zu finden. Der Name seines Sohnes, meines Großvaters, der dann lange Jahre in Perwomajskij (Первома́йский), einer kleinen Ortschaft im Südosten, in der Nähe von Schilka (Ши́лка), lebte, steht auf der anderen Gedenkstätte, in Perwomajskij, geschrieben: Walentin Semönowitsch Tschernich (Валенти́н Семёнович Черны́х). (Sehen Sie die Fotos).
Ich schreibe diese Zeilen und habe Tränen in den Augen… Ich darf die Vergangenheit meiner Familie trotz all der Versuche, die Geschichte zu ignorieren, anders zu interpretieren oder gar neu zu schreiben, nie vergessen, die ist ein wichtiger Teil von mir.
Noch etwas muss ich hier unbedingt hinzufügen. Das muss doch auch erzählt werden, weil ich gerecht und objektiv sein will. Es gab einen Mann, der Kurt hieß. Er kam mehrmals zu der Familie meines Großvaters, bei Krasnodar (Краснода́р), und brachte Essen für die Kinder. Er sagte kein Wort, er legte nur die Lebensmittel auf den Tisch und ging weg. So etwas gab es damals auch. Auch daran erinnern wir uns.
Der 9. Mai, der Tag des Sieges, ist also einer der wichtigsten Feiertage in Russland. Wir feiern, wir gedenken diejenigen, die uns im wörtlichen Sinne das Leben ermöglicht haben. Wir sind ihnen unendlich dankbar und erzählen unseren Kindern, wie es war. Wir erklären ihnen die große Bedeutung des Tages. Wir schweigen in der Schweigeminute, wir weinen… Wir hören uns die Lieder der Kriegsjahre an, wir singen mit, da wir die Texte kennen. Wir bringen Kränze und Blumen an die Gedenkstätten und Gräber, wir bedanken unseren Veteranen und erweisen ihnen unsere Ehre. Sehr wenige von ihnen sind jetzt noch übrig...
Am 9. Mai 2012 entstand eine geniale Bürgerinitiative, die «Das unsterbliche Regiment» («Бессмéртный полк») heißt. Die Idee kam jemandem in der Stadt namens Tomsk (Томск). Millionen von Menschen gehen seitdem am Tag des Sieges auf die Straße mit den Porträts von Verwandten, die sich am Großen Vaterländischen Krieg beteiligt haben. Dadurch wird die Verbindung mit unseren heldenhaften Vorfahren sowie unsere ewige Dankbarkeit noch stärker.
Die Russen werden niemanden und nichts vergessen! Das wäre doch ein schweres Verbrechen!..
Es war mir wichtig, hier über den 9. Mai und über allem, was uns damit verbindet, zu erzählen. Vielleicht haben Sie etwas Neues erfahren und können jetzt möglicherweise etwas besser verstehen? Verständnis, die Wahrheit, das Wissen und direkte zwischenmenschliche Kommunikation sind vielleicht genau das, was unserer Welt fehlt?..
Meine Videos und viele Bilder wurden von meinem Vater vor einigen Jahren in Perwomajskij (Первома́йский), in einem kleinen Städtchen im Südosten unseres Landes gemacht. Die anderen Fotos machten meine Familienmitglieder in Smolensk (Смоле́нск), Moskau (Москва́), Perm' (Пермь) und bei Nowgorod (Но́вгород).
ZUSÄTZLICH:
«Das unsterbliche Regiment» («Бессмéртный полк») findet mittlerweile jährlich in mehr als 70 Ländern statt. Auch in Frankfurt-am-Main kann man daran teilnehmen.
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